-
Erfahrungen eines Türknaufs
Heute war ein ruhiger Tag. Das gefällt mir. An den ruhigen Tagen begegnen mir viel weniger Menschen. Dann werde ich auch weniger angefasst. Ich bin ein Türknauf. Und ich hasse mienen Job. Könnt ihr euch vorstellen, wie das ist, wenn euch jeden Tag dutzende Menschen mit ihren ungewaschenen Händen an die Nase fassen?! Die kalten Hände sind die Schlimmsten. Letztes Mal war ich drei Tage lang erkältet, als mich eine Frau mit ihren kalten Händen an der Nase gekitzelt hatte. Aber wenigstens hatte ich danach nicht das Bedürfnis, duschen zu gehen. Das ist bei den Menschen mit schweissigen Händen besonders schlimm. Und überhaupt, niemand bedankt sich bei mir, dass ich…
-
Der Weihnachtsdrache
Es war noch dunkel und doch lag ich wach in meinem Bett. Etwas hattemich geweckt. Ich lauschte in der Finsternis und versuchte herauszufinden, was meinen Schlaf gestört hatte. Da! War da nicht ein Geräusch? Es hörte sich an wie … ein leises Klingeln? Von Neugier gepackt, schwang ich meine nackten Füsse über die Bettkante. Der flauschige Teppichboden erstickte jeden Laut. Ich schnappte mir meinen Bademantel und warf ihn über meine Schultern. Dann öffnete ich die Schlafzimmertür einen kleinen Spalt weit. Am anderen Ende des Flures schimmerte es sanft durch die Wohnzimmertür. Der Weihnachtsbaum stand seit dem gestrigen Fest dort und die Lichterkettenbrannten immer. Das war bei uns Tradition. Dennoch nahm…
-
Notlüge
Ich hatte mir vorgenommen mit dem Lügen aufzuhören. Es war nicht so, dass ich über wichtige Dinge log. Oft waren es kleine Notlügen. Ich nutzte sie, um aus Verabredungen zu kommen, auf die ich nun doch keine Lust hatte. Oder um zu erklären, warum ich schon wieder zu spät zur Arbeit kam. Nichts drastisches also. Trotzdem möchte ich aufhören. Vor kurzem war ich bei einer Wahrsagerin. Sie sagte mir grosses Unglück vorher, wenn ich nicht mit dem Lügen aufhörte. Ich glaube eigentlich nicht an diesen Hokuspokus. Und eigentlich wollte ich auch gar nicht da hin. Es war Esthers Schuld. Sie hat mich mitgeschleift und die Wahrsagerin hat darauf bestanden, auch…
-
Wohin?
Der Regen prasselte gegen die Fensterscheibe. Ihr Blick war starr in die Ferne gerichtet. Es kam ihr vor, als hätte sie etwas Wichtiges vergessen. Etwas sehr Wichtiges. Etwas, das man nicht einfach so vergessen durfte. Angestrengt dachte sie nach. Das leise Prasseln des Regens war dabei ein angenehmes Hintergrundgeräusch. Sie liebte das Prasseln des Regens. Hatte es immer schon geliebt. Es gab ihr das Gefühl zuhause zu sein. Bei ihren Eltern und ihren Geschwistern, im Haus auf dem Hügel. Nicht hier. In diesen Mauern, die sie nicht wiederkannte. Voll mit Bildern von Menschen, die sie nicht kannte. Sie war nicht allein in diesem Haus. Da war ein Mann. Er war…
-
Hexenzauber in der Moderne
Tick. Tack. Tick. Tack. Die Sekunden verstreichen plötzlich unglaublich langsam. Ich spüre meine Beine nicht mehr. Tick. Tack. Ob ich noch Hände habe? Diese spüre ich nämlich auch nicht mehr. Alles fühlt sich sehr steif an. Mein Rücken. Mein Hals. Tick. Tack. Ich habe nie realisiert, wie laut Zeit vergeht. Unglaublich laut, das kannst du mir glauben. Sie dröhnt geradezu in den Ohren. Ach was, im ganzen Körper. Tick. Tack. Du fragst dich bestimmt, wie das passiert ist. Hab ich recht? Ich bin – oder sollte ich besser sagen, ich war – eine Hexe. Keine junge Hexe, wie du jetzt vielleicht denken magst. Tick. Tack. Nein ich bin eine erfahrene…
-
Violettes Blut
Entgeistert starrte ich auf Loas Lieblingsbluse. Sie wies einen dunkelvioletten Fleck auf, genau dort, wo vor Sekunden noch das Messer gesteckt hatte. Loa war leichenblass und zitterte. Ihr Atem kam in kurzen, flachen Stössen und sie schien ganz weit weg zu sein. Violett. Der Fleck auf ihrer Bluse war violett. Was bedeutete das? Musste Blut nicht rot sein? War es das nicht normalerweise auch? Einen Moment lang, war ich versucht, mit dem Messer, dass ich aus Loas Brustkorb gezogen hatte, meine eigene Haut aufzuritzen. Nur um zu sehen, dass mein But war, wie es sein sollte. Rot. Dann fiel mein Blick auf meine Hände, die vor roter Flüssigkeit glänzten. Das…
-
Sprachbarrieren
Ich stehe vor der lackierten Holztür meines Klassenraums und versuche mit schierer Willenskraft zu verhindern, dass ich mich hier und jetzt auf den Boden übergebe. «Du schaffst das, Travis.», rede ich mir selbst gut zu und blicke dann über meine Schulter, um zu sehen, ob mich nicht jemand beobachtet. Man sollte erwarten, dass mir die Leute an einem Tag wie diesem die Klassenzimmertür einrennen, um einen Blick auf meine neuen Studenten zu erhalten. Aber natürlich ist das Wunschdenken. Vor etwa drei Jahren habe ich mir den Groll meiner Kollegen und der Rektorin zugezogen. Sie geben mir die Schuld an einem Unglück, dass ich unmöglich hätte verhindern können. Diese neue Klasse…
-
Warum das Gras grün ist
Ein Mythos Früher einmal war die ganze Welt blau. Nicht nur das Meer, Flüsse, Seen und der Himmel, sondern auch Wälder und Wiesen. Alles strotzte vor Leben und alles war so blau, wie man es sich nur vorstellen konnte. Einmal lebte auf dieser blauen Welt ein Kaninchen und dieses Kaninchen liebte nichts so sehr, wie das blaue Gras. Denn dieses verging dem Kaninchen geradezu im Mund und es schmeckte nach Wundern und Abenteuern. Das Problem war, dass das kleine Kaninchen einen weiten Weg zurückzulegen hatte, bevor es an der blauen Wiese ankam. Das war leider alles andere als leicht. Das kleine Kaninchen wohnte in einem Kaninchenbau und der Weg, den…