Eine Seite, Eine Geschichte

Hexenzauber in der Moderne

Tick. Tack. Tick. Tack. Die Sekunden verstreichen plötzlich unglaublich langsam. Ich spüre meine Beine nicht mehr. Tick. Tack. Ob ich noch Hände habe? Diese spüre ich nämlich auch nicht mehr. Alles fühlt sich sehr steif an. Mein Rücken. Mein Hals. Tick. Tack. Ich habe nie realisiert, wie laut Zeit vergeht. Unglaublich laut, das kannst du mir glauben. Sie dröhnt geradezu in den Ohren. Ach was, im ganzen Körper.

Tick. Tack. Du fragst dich bestimmt, wie das passiert ist. Hab ich recht? Ich bin – oder sollte ich besser sagen, ich war – eine Hexe. Keine junge Hexe, wie du jetzt vielleicht denken magst. Tick. Tack. Nein ich bin eine erfahrene Hexe. Schon über 300 Jahre, kommen die Menschen von nah und fern zu mir, wann immer sie etwas brauchen. Manche kommen für Medizin. Andere wollen, dass ich ihren Nachbarn verhexe. Einige wünschen sich einen Liebestrank. Inzwischen ist es sogar so, dass gewisse Leute nur zu mir kommen, um meinen Rat zu erhalten. Tick. Tack.

Das hätte ich auch nie gedacht. Tick. Das die Menschen einmal den Rat einer Hexe suchen. Tack. Früher kamen sie, mit Angst im Herzen, gesenktem Blick und leiser Stimme zu mir. Heute wünschen sie mir guten Tag auf der Strasse. Hier im Ort, kennt mich jedes Kind. Tick. Tack.

Entschuldige, jetzt bin ich abgeschweift. Du möchtest ja wissen, wie dieses Unglück hier geschah. Tick. Tack. Nun, ich habe mir ein neues Buch gekauft. Die meisten meiner Bücher sind über 500 Jahre alt. Ich habe sie als junge Hexe geerbt, als mich meine Meisterin ausgebildet hat. Einige Bücher habe ich mir im Laufe meiner 300 Jahre auch selbst angeschafft. Per Eulenpost. Das war lange die typische Art, wie Hexen Briefe und Pakete versendet haben.

Aber heute wird das nicht mehr so gemacht. Tick. „Die Zeiten haben sich geändert, Alma.“, wie oft musste ich mir diesen Satz in letzter Zeit anhören? Jedes Mal hatte ich den Eindruck, dass die jüngeren Hexen höhnisch auf mich und meine altbewährten Systeme herabblickten. Tack. Tick. Jedenfalls habe ich mich bedrängen lassen, mir auch einmal ein Buch mit diesem neumodischen Auslieferdienst liefern zu lassen. Sie nennen es Internet. Tick. Selbst das klingt wie ein schlechter Zauber.
Das neuste Buch habe ich mir bestellt. Die jungen Hexen, haben es ausgesucht. Dabei weiss doch schon die kleinste Hexe, dass Zauber erst reifen müssen, um richtig gut zu sein.

Eigentlich bin ich also selbst Schuld an meiner Misere. Tack. Aber ich wollte ja ausprobieren, wie diese neumodischen Zauber funktionieren. Ich wunderte mich, ob sie anders anzuwenden wären, als meine altbewährten und seit Jahrhunderten verlässlichen Zaubersprüche. Tick. Tack. Tick. Tack.

Jetzt kannst du dir ja denken, was geschehen ist. Dieser blöde neumodische Zauber ist komplett nach hinten losgegangen. Eigentlich hätten nach dem Sprechen der Zauberformel die leuchtenden Ziffern einer Uhr – Tick – vor mir in der Luft erscheinen müssen. Es hat nicht geklappt. Stattdessen habe ich mich langsam in eine alte hölzerne Standuhr verwandelt. Wenigstens haben die mehr Klasse als dieses leuchtende Zeug, was die Leute heutzutage um ihre Handgelenke binden.

Gut. Nun da du also weißt, warum ich mich in dieser misslichen Lage befinde, darf ich dich um einen Gefallen bitten? Ich bin nicht so gerne eine Uhr. Tack. Tick. Da drüben auf dem Tisch liegt die Adresse von Herbert dem Magiemechaniker. Er sollte dieses Missgeschick eigentlich rückgängig machen können. Würdest du ihm für mich eine Nachricht zukommen lassen? Tack. Ich danke dir.

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